Der SWR Südwestrundfunk hat uns angefragt, ihre Publikation über unsere FSR-Kanäle zu bewerben. Nach erfolgter Diskussion kommen wir einhellig zum Schluss, dass wir diese nicht bewerben werden. Wir wollen eine Erklärung ggü. dem SWR abgeben.
Unsere Anmerkungen:
Ein Ziel der Doku-Soap laut Produzierenden sei „der sensible und nicht wertende Umgang mit [deren] Biographien“ (Zitat: https://www.dwdl.de/magazin/78390/raus_aus_der_swrbubble_rein_in_die_bayreuther_strasse/ [zuletzt abgerufen am 23.03.2021].)
Wir haben stichpunktartig festgehalten, welche Aspekte unseres Erachtens dagegensprechen. Wir erheben dabei keinen Anspruch auf Vollständigkeit und sehen außerdem das Potential einer tiefergehenden wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der “Langzeitdokumentation” in einem Seminar im Studiengang Soziale Arbeit der HWG Ludwigshafen am Rhein.
Der Titel “Hoffnung, Hunger und Hartz IV” wirkt mit dieser zynischen Formulierung herabwürdigend gegenüber den Betroffenen. Durch das spezifische Framing wird ein einziges Bild, der dort wohnenden Menschen gezeichnet. Mitleidserregende, negativ konnotierte Begriffe wie “Hunger” und “Hartz IV” werden verwendet um dieses Bild bei Zuschauer*innen zu produzieren.
Die Serie ist individualisierend, sie schreibt Schuld und Verantwortung an der Situation den Betroffenen zu und suggeriert, dass sich mit viel Arbeit, Fleiß und richtig getroffenen Entscheidungen alle Menschen „nach oben“ bzw. “raus aus der Bayreuther” arbeiten könnten. Strukturelle Verhältnisse werden in der Sendung ausgeklammert. Gleichzeitig wird das einzig angestrebte Ziel – nämlich raus aus der Bayreuther – formuliert, welches wie selbstverständlich voraussetzt, dass die Bayreutherstraße kein Wohnort sein kann, an dem jemand gerne wohnt und der nicht wohnlich sein kann.
Gesellschaftliche – insbesondere stadtpolitische – Gegebenheiten werden hierbei sehr unzureichend beleuchtet: Das Gespräch mit der Stadtdezernentin in Folge 7 bestätigt das etikettierende und individualisierende Bild einer deutenden Zuschreibungsperspektive. Die Verantwortung der Stadt gegenüber den Menschen bzgl. einer menschenwürdigen Unterbringung wird hier fast schon geleugnet.
Die Stadtdezernentin sagt sinngemäß, es dürfe ja nicht zu schön in der Bayreuther Str. sein, da dies verhindere, dass die Menschen sich eine Wohnung suchen. Gleichzeitig gibt sie zu, dass es nicht genug bezahlbaren Wohnraum in Ludwigshafen gebe – hier widerspricht sie sich.
Der allgemeine Wohnungsmarkt und die überaus prekäre Wohnsituation in der Bayreutherstraße (Schimmel, Ungezieferbefall o.ä.) werden nicht ausreichend thematisiert. Ebenso werden behördliche und gesetzliche Hürden bzw. Grenzen unreflektiert hingenommen. Hier wird der Fokus der Doku zu stark auf die Individuen gelegt, anstatt sich angemessen kritisch mit den involvierten Akteur*innen und den Verhältnissen auseinanderzusetzen. Demnach erachten wir es als notwendig, gewisse Problemlagen genauer zu beleuchten.
Zu problematisieren sind unserer Ansicht nach u.a. die folgenden Institutionen:
1. Jobcenter: der Regelsatz ist zu gering, um damit gut zu leben; Renovierungskosten-übernahme wird bewilligt, das Geld muss allerdings vorgestreckt und Quittungen eingereicht werden; medizinische Sachverhalte werden angezweifelt und kraft- und zeitaufwendige Zusatz-Maßnahmen angeordnet uvm.
2. Krankenkasse: hohe Hürden zur Bewilligung von bspw. Reha-Maßnahmen oder andere kostenintensiven medizinischen Hilfsmitteln, Untersützung in der Pflege uvm.
3. Strafrecht: die Hausdurchsuchung der Polizei; die Geldstrafe von fast 1000 Euro für den Besitz von 0,4g Cannabis
4. Stadt Ludwigshafen: in Bezug auf den Sozialen Wohnungsbau, die (mangelhafte) Ausstattung und prekären Lebensbedingungen in der Bayreutherstraße (Schimmel, Heizung, Ungezieferbefall); fehlende Mitbestimmung bei der Zimmer-Zuordnung, schneller Verlust des Zimmers, fehlende Mietrechte, fehlende Anerkennung, dass der Wohnort für viele KEINE vorübergehende Ausnahmesituation darstellt u.v.m..
Außerdem:
Die Möglichkeiten zu Verbesserung der Zustände in der Bayreuther Str. oder gar die Perspektive einer dezentralen Unterbringung der Menschen werden nicht in den Blick genommen.
Auch allgemeinere gesellschaftliche Zusammenhänge, wie Menschen in Armut geraten und was dagegen politisch getan werden müsste, werden nicht dargestellt. Sowie beispielsweise Sachverhalte zum derzeit nur gering verfügbaren Wohnungsmarkt.
Es wird nicht nur etikettiert und individualisiert, sondern die Menschen werden auch ständig verobjektiviert und es wird stark emotionalisiert → Zuschauende sollen Mitleid oder Abneigung ggü. den Menschen bzw. deren Handlungen entwickeln. Klischees und Vorurteile werden unkritisch übernommen und reproduziert.
Sonstige Punkte:
– Es gibt Unklarheiten zur Machart der Serie: Wie wurden die dargestellten Menschen für die Serie ausgewählt? Gab es Regieanweisungen oder ähnliches?
– Wurde die Serie sozialwissenschaftlich/sozialarbeitswissenschaftlich begleitet und evaluiert?
– Viele Menschen in der Serie äußern, sie würden gerne arbeiten. Unsere These ist, dass das Problem der Arbeitslosigkeit also viel eher ist, dass es nicht genug (und angemessene) Arbeit gibt, als dass die Menschen zu faul dafür wären. Dies wird aber durch die individualisierenden Zuschreibungen der Serie impliziert.
Empfehlenswerte(re) Formate:
1. Vortrag von Sebastian Friedrich: “(un)sichtbare Klasse!?! – Der faule Arbeitslose…” https://www.youtube.com/watch?v=jYWxqLj1aAc
2. Das Bayreuther Filmprojekt (ganzer Film): https://www.youtube.com/watch?v=0yEnwYbF2gg
Quellen:
https://www.ardmediathek.de/swr/sendung/bayreuther-strasse-hoffnung-hunger-und-hartz-iv/staffel-1/Y3JpZDovL3N3ci5kZS9zZGIvc3RJZC8xMjU4/1/
https://www.dwdl.de/magazin/78390/raus_aus_der_swrbubble_rein_in_die_bayreuther_strasse/